Die feministische Autorin Erika Wisselinck1 stellte 1987 in ihrem Buch „Hexen. Warum wir so wenig von ihrer Geschichte erfahren und was davon auch noch falsch ist. Analyse einer Verdrängung“ fest, dass die Hexenverfolgung bis zu diesem Zeitpunkt in Forschung, Lehre und Schule kaum thematisiert wurde. Es ist zum Teil ihr Verdienst, dass in den Jahren nach dem Erscheinen ihres Buches Wissenschaftler/innen und Interessierte zu diesem Thema geforscht haben.2 Und es ist Aktivistinnen der Frauenbewegung in den 70er und 80er Jahren zu verdanken, dass die Hexenverfolgung öffentlich thematisiert wurde. Sie haben den Begriff der Hexe für sich neu besetzt: als einen symbolischen Ausdruck für Selbstbewusstsein, Unabhängigkeit und Souveränität.
Im „Großen Plötz“, dem deutschen Standard-Nachschlagewerk zur Welt-Geschichte, wird die Hexenverfolgung selbst im Jahr 2010 immer noch nicht erwähnt, was Wisselinck schon 1987 kritisierte.3 Als hätte es sie nicht gegeben…
Es ist nicht möglich, die Ursachen der Hexenverfolgung und deren Zusammenhänge monokausal zu benennen. Die hohe Zahl an ermordeten Frauen, Männern und Kindern sind ursächlich nicht pauschal erklärbar. Jeder einzelne dieser Menschen hatte seine persönliche Verfolgungsgeschichte. Skrupelloses Durchsetzen von institutionellen Machtpositionen wie auch von individuellen Eigen-Interessen waren – auch im Kontext mit Staatsentwicklung und Rechtssprechung – für den Beginn der Hexenverfolgung maßgeblich verantwortlich. In der langen Zeit der Hexenverfolgung von 1450 bis 1750 konnte letztendlich jede/r der Hexerei verdächtigt werden – unabhängig von Beruf, Stand, Alter, Geschlecht und sozialer Einbindung.
Quellenlage für Sachsen:
Der Historiker Manfred Wilde hat in seinem 2003 veröffentlichten Werk maßgeblich zur Aufarbeitung von Quellen zur Hexenverfolgung im (kur-)sächsischen Raum beigetragen.4
Als Untersuchungsgebiet definiert Wilde nicht das heutige Bundesland Sachsen, sondern das Kurfürstentum in den Grenzen von 1750, d.h. einschließlich der im 16. bzw. 17. Jahrhundert hinzugekommenen nicht mehr kirchlichen Fürstbistümer Meißen, Merseburg-Zeitz und Naumburg, der Ober- und Niederlausitz und weiterer. Wildes Ergebnisse reichen z.T. über Kursachsen hinaus, da er die Urteile sächsischer Spruchbehörden, die auf Antrag auswärtiger Gerichte an diese Behörde gestellt worden sind, miterfasst hat.5
Wilde stellte 905 Anklagen gegen Einzelpersonen fest. Davon „betrafen 762 Fälle den Vorwurf von Zauberei und Hexerei, 72 von Segensprechern, klugen Leuten und magischen Heiler/innen, 47 von Wahrsagenden und 71 von abergläubischen Händeln und Poltergeisterei. Dazu 24 Injurien-Klagen. In 284 Fällen wurde die Todesstrafe verhängt. Wenigstens 48 Personen verstarben in Haft.6
Seit 1572 mussten die landesherrlichen Gerichte bei peinlichen/ gerichtlichen Verfahren eine der vier kursächsischen Spruchbehörden (Schöffenstühle und juristische Fakultäten in Leipzig und Wittenberg) beteiligen. Diese vier Obergerichte mussten Urteilsregister führen, die sogenannten Spruchkonzeptbände. Laut Wilde gab es allein vom Leipziger Schöffenstuhl 700 – 800 Spruchkonzeptbände. Diese hätten die für die Zauberei- und Hexenprozesse relevanten Todesurteile von 1400 bis 1700 dokumentiert. Von diesen 700 – 800 Bänden sind jedoch nur 14 überliefert. Vom Wittenberger Schöffenstuhl sind für den Zeitraum von 1530 – 1700 noch 211 Spruchkonzeptbände nutzbar.
Zudem existieren überlieferte Bestände regionaler Gerichtsbehörden. Der größte Teil dieser Akten wurde jedoch im 19. Jahrhundert als Altpapier verkauft. Nur ein kleiner Teil der Archivalien wurde in staatliche Archive oder in Sondersammlungen größerer Bibliotheken übernommen.7 Erika Wisselinck stellte das Gleiche für das Bayerische Staatsarchiv fest: Die sogenannten „Malefiz-Akten“ wurden 1851 aus bürokratischen Gründen vernichtet.8
Hexenprozesse in Mitteldeutschland
Die Hexenprozesse beginnen im 15. Jahrhundert, erreichen um 1590/1630 und 1660 in Deutschland ihre Höhepunkte, flauen im 18. Jahrhundert ab. Seither sind vielfältige geschichtliche Ereignisse über unsere Region hinweg gegangen: der Nordische Krieg von 1700 – 1721, der Siebenjährige Krieg von 1756 – 1763, die Napoleonischen Kriege von 1792 – 1815, der Zweite Weltkrieg von 1939-1945.
Der Zenit der Hexenverfolgung war während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges von 1618 – 1648. Bei der Eroberung Magdeburgs im Jahr 1631 fielen die Spruchbände des Magdeburger Schöffenstuhls, in denen auch die Prozessakten von Hexenprozessen enthalten waren, der Brandschatzung zum Opfer. Dort, wo in den Archiven die Spruchbände und Prozessakten die Wechselfälle der Geschichte überstanden haben, wurde deren Bedeutung oft nicht oder zu spät erkannt.
Die Quellenlage ist lückenhaft und oft widersprüchlich. Die Ursache ist in der geschichtlichen Entwicklung zu suchen. Diese Lücken werden sich nur in wenigen Einzelfällen noch schließen lassen. Die vorhandenen Quellen sind inhaltlich kritisch zu betrachten. In einer alten Chronik ist z.B. zu lesen, dass in dem Frauenstift Quedlinburg im Jahr 1589 an einem Tag 133 Hexen verbrannt worden seien. Diese Aussage lässt sich durch gesicherte Fakten nicht belegen.
Territorium und Landesherrschaft
Auf dem Gebiet des ehemaligen Kursachsen gab es eine Reihe von staatlich-rechtlichen Gebilden, die unterschiedlichen rechtlichen Systemen/Gesetzen unterlagen. Im Ergebnis kam es zu einer Zersplitterung mit vielfältigen rechtlichen Verpflichtungen und machtpolitischen Reibungspunkten, die das Aufkommen von Hexenprozessen begünstigten. Als Beispiel soll das Territorium der Ganerbschaft Treffurt dienen, das im heutigen Freistaat Thüringen liegt. An diesem Territorium hatten der
- Mainzer Erzbischof
- die Landgrafschaft Hessen-Kassel
- das Kurfürstentum Sachsen (nach der Leipziger Teilung von 1485 die daraus hervorgegangenen zwei sächsischen Teilstaaten je zur Hälfte)
Herrschaftsrechte, die sie nur gemeinsam ausüben konnten.
Die territoriale Konzentration von Hexenprozessen ist in den Mittelgebirgen am höchsten, dort wo die größte territoriale Zersplitterung von Landesherrschaften bestand.
Kleine Landesherrn (deren tatsächliche Macht auf schwachen Füßen stand) konnten dem Druck der Bevölkerung nicht widerstehen, die in Krisenzeiten oft auf die Verfolgung vermeintlicher Hexen drängte, weil sie in deren Wirken die Ursache für Missernten und Unglücke sah. Oft haben auch Fürsten kleiner Herrschaften zur Machtdemonstration auf Hexenprozesse gesetzt. Wenn sich verschiedene Landesherrn über die Blutgerichtsbarkeit um bestimmte Orte und Territorien stritten, wurden zum Beweis der Zuständigkeit auch Akten von Hexenprozessen an das Reichskammergericht gesandt, die in dem jeweiligen Gebiet durchgeführt worden waren.
Die Gerichtsverfassung
Diese ist nicht mit der heutigen Gerichtsverfassung vergleichbar und kompliziert. Es gab
- Gerichte
- Gerichtsähnliche Institutionen (Fürsten, Räte, Landesregierungen)
- Einrichtungen ohne Gerichtseigenschaft (Schöffenstühle, Juristenfakultäten)
Neben den Gerichten der Landesherrschaft gab es nicht landesherrschaftliche Gerichte wie die
- der Kirche
- der Städte
- des Adels
- der Handwerkerinnungen
- der bäuerlichen Gemeinden
- der Universitäten,
… die aber keine „Privatjustiz“ darstellten:
Es gab die Verbindung von Gericht und Grundbesitz; die Gerichtsrechte waren Teil der Herrschaftsrechte, die dem Gerichtsherrn über dem Grundbesitz zustanden. Dem Adel wurde in Kursachsen die Verwirklichung der niederen Gerichtsbarkeit als Standesprivileg verbrieft. Die Obergerichtsbarkeit verblieb beim Landesherrn. Allerdings konnten der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und die Kirche Gerichtsrechte ausüben, wenn diese an ihre Person gebunden waren.
Eine Besonderheit waren die Schöffenstühle und Juristenfakultäten. Dort hatten Gerichte aller Typen und Ebenen zu den vorliegenden Fällen Gutachten und Urteile einzuholen, die nach Aktenlage gefällt wurden. Obwohl nicht ausdrücklich vorgesehen in der Verfahrensordnung, trugen diese Gutachten
und Urteile bindenden Charakter für das weitere Gerichtsverfahren, da sie die Urteile vorformulierten. Das betraf nicht nur die Hexenprozesse, sondern auch andere Verfahren.
Der bekannteste war der Leipziger Schöff enstuhl, der eigentlich eine Einrichtung der Stadt Leipzig war, die im geschichtlichen Verlauf dem sächsischen Kurfürsten unterstellt war. Parallel bestand die Leipziger Juristenfakultät, eine Einrichtung der Universität Leipzig. Zwischen beiden Institutionen gab es personelle Überschneidungen, auch hielten sie gemeinsame Beratungen ab.
Die Hexenprozesse
Die Zahl der Prozesse und der darauf erfolgten Hinrichtungen schwankt, gesicherte Angaben gibt es wenige. Neben dem Holocaust an den Juden ist es in Europa eine der größten Massentötungen von Zivilist/innen. Gesichert sind 70.000 Hinrichtungen, davon 30.000 in Deutschland; in der Schweiz und in Polen je 10.000. Innerhalb der christlichen Orthodoxie, vor allem in Russland, sind Hinrichtungen wegen Hexerei fast unbekannt (hier sind unter 50 Hinrichtungen gesichert).
Die orthodoxe Christliche Kirche hat das Buch „Der Hexenhammer“ des Dominikanermönches Heinrich Institoris aus dem Jahr 1486 abgelehnt – nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil ihr der Katholik Institoris als Ketzer galt.
Das Buch „Der Hexenhammer“ war kein Gesetz, sondern eine Art Hexenenzyklopädie, eine theoretische Grundlage für die Hexenverfolgung. Grundlage war der Artikel 109 der Constitutio Criminalis Carolina, CCC aus dem Jahr 1532 (CCC lat: Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V.. Peinlich steht für „Strafe“). Die CCC gilt heute als erstes allgemeines deutsches Strafgesetzbuch.
In diesem Gesetzbuch war der Feuertod für Hexerei vorgesehen. Allerdings galt auch eine gewisse Diff erenzierung für den Fall, dass kein Schaden durch die „Zauberhandlungen“ entstanden sei. Es war in solchem Fall nicht zwingend auf Feuertod zu entscheiden. In Einzelfällen konnte auf zeitliche/ewige Landesverweisung, Ablegung eines öff entlichen Widerrufs und Pranger entschieden werden.
Die Constitutio Criminalis Carolina enthielt schon gewisse Verteidigungsrechte und Einschränkungen der Folter. Die Folter war ein nach genauen Regeln einzuhaltendes Mittel zur Beweiserhebung. Mit der Begründung, dass Hexerei außerordentliche und schlimmste Verbrechen seien, galten bei Hexerei-Anklagen diese rechtlichen Möglichkeiten nicht. Es gab keine Berufung, diese war verboten mit folgender Begründung: Ziel des Inquisitionsverfahrens war die Überführung der Beschuldigten bzw. Angeklagten. Dazu war das Geständnis die Krone der Beweise. Wenn das Geständnis abgelegt wurde, war der Wahrheitsfi ndung Genüge getan. Aus Sicht der damaligen Zeit war es nicht einzusehen, weshalb Angeklagte, die die Tat zugegeben hatten und verurteilt worden waren, die Vollstreckung des Urteils hinauszögern können sollten, in dem sie an ein höheres Gericht appellierten.
Mittel der Verteidigung gab es nur wenige.
Eine davon war die sogenannte Injurienklage (eine Art Verleumdungsklage) gegen den mutmaßlichen Denunzianten: Der/die Beschuldigte machte geltend, dass dieser aus persönlicher Feindschaft Beschuldigungen erfunden habe, um ihm/ihr Schaden zuzufügen. Gelang den Beschuldigten dieser schwer zu führende Nachweis, wurde der/die Denunziant/ in bestraft. Es wurde Beschuldigten aber nachteilig ausgelegt, wenn sie keine Injurienklage erhoben; das galt als Indiz dafür, dass die Anschuldigung der Hexerei stimmt.
Quellen:
1. Wisselinck, Erika (1987): Hexen. Warum wir so wenig von ihrer Geschichte erfahren und was davon auch noch falsch ist. Analyse einer Verdrängung. 2 Aufl., München: Frauenoffensive, S. 11↩
2. Eichhorn, Jaana (2006): Geschichtswissenschaft zwischen Innovation und Tradition. Göttingen: V&R unipress, Hochschulschrift, S. 280; 291↩
3. Wisselinck (1987): S. 9↩
4. Schmidt-Recla, Adrian (2004): Manfred Wilde, Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, 121, 1, S.782-785↩
5. Decker, Rainer (2005): Review of Wilde, Manfred, Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen. H-German, H-Net Reviews. July, 2005. URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=10725↩
6. Wilde, Manfred (2003): Quellenlage. In: Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen. Köln: Böhlau Verlag, S. 12↩
7. Wilde, Manfred (1999): das Hexenphänomen als Aspekt der Sozialgeschichte. In: Hexen. Berichte von den Hexentagen vom 5.-7. November 1999 in Leipzig und Bad Düben. Leipzig: LOUISEum 13. Sammlungen und Veröffentlichungen der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. Leipzig. S. 11-13↩
8. Wisselinck (1987), S. 27↩
Bildausschnitt: Dürer, Albrecht (1526): Der Teppich im Schloß Michelfeld am Rhein, Deutsche Fotothek, URL: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/ZWZ2DBG2MS4YQPIWFJRPLIAOGNOL2Y5E